Ich benutze die abgehende Estafette, welche Euer Hochwohlgeboren die Ankunft des Ministers von Stein zu Gumbinnen melden wird, worüber Major v. Plotho des Weiteren berichtet, um auch meine kleine Lebensgeschichte in Kurzem beizufügen. Von Farenheid und ich kamen den 18. Abends an, fanden Lyck noch ziemlich leer - veränderte Disposition des russischen Hauptquartiers hatte Regierungsrat Kolhoff nach Kalinowen gerufen, wohin er kommen sollte. Der Ort fand sich zu klein, und heute früh wurden wir durch den Vortrag des Hauptquartiers benachrichtigt, dass der Kaiser noch heute eintreffen würde;  Abdruck der Rede von Gisevius in: Matthias, Kurt, Die Begrüßungsrede des Superintendenten Gisevius in Lyck an den Zaren Alexander von Rußland im Jahre 1813, in: „Unser Masuren-Land“. Familienkundliche und regionalgeschichtliche Beiträge aus der Heimatbeilage der „Lycker Zeitung“ 1925 bis 1935, Bd. 1, S. 9-11.
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ich ging bei Superintendent Gisevius und sprach mit dem Magistrat, welche beide sehr bereitwillig alles das ihrige zum Empfang (analog der kleinen Städte und der wenigen Mittel) anwenden wollten.
Postillons, eine kleine Art von Bürgergarde, ritten dem Kaiser entgegen, die Geistlichkeit empfing ihn am Eingange der Stadt, das Volk rief Hurra usw., von Saltzwedel war angekommen, weiter war kein vernünftiger Repräsentant aufzutreiben, alles, was von Gumbinnen ausgegangen war, versammelte sich auf dem Amt. Der Kaiser sollte auf dem Schloss logieren und sehr gut. Er kam um 2 Uhr an, wir empfingen ihn an der Treppe, wurden in ein Vorzimmer geführt, bald nachher kam er heraus, redete mich französisch an, welches mir lieb war, weil mir schmeichelhafte Worte in dieser Sprache besser vom Munde gehen, ich sagte ihm - etwas geordnet -, was Sie den Abend meiner Abreise von Gumbinnen gebilligt hatten, er sagte mir:  So im Original. Übersetzung: Ich betrete dieses Land nicht als Feind, ich bin der Freund des Königs, ich vergesse bereitwillig, was zwischen uns geschehen ist. Ich habe die strengsten Befehle erteilt, damit die Ordnung aufrechterhalten wird ...
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je n'entre pas dans ce pays comme ennemi, je suis l'ami du roi, j'oublieres volontié ca qui s'est passé entre nous, - j'ai donné les ordres les plus strictes pour que l'ordre soit maintenu et qu'aucon excès ne se commette
etc. Das waren die Hauptpunkte dessen, was er antwortete, mehrere Artigkeiten folgten, er ließ sich durch Major v. Plotho alle Anwesenden nb. alle  So bereits in der Abschrift.
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...
Offiziere, Regierungsmitglieder - und mehrere Alotrias, von welchen es mir nicht lieb war, dass sie sich dorthin gedrängt hatten, vorstellen, und entfernte sich. Wir gingen in Masse zum Feldmarschall Kutusow. Er sprach viel mit uns und gerne hätte ich gefragt, was war der kurze Sinn der langen Rede, ich sage nichts über ihn, es gehört nicht für einen Brief, aber was soll man von der Weltgeschichte halten, wenn man bedenkt, dass dieser Mann dazu geboren ist, nach 200 Jahren als der Besieger Napoleons darin zu prangen!!! - einst mehr davon.  Vgl. Natzmer, Gneomar Ernst von, Aus dem Leben des Generals Oldwig von Natzmer, Berlin 1876.
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Natzmer ist nicht mehr im Hauptquartier, sondern schon nach Berlin zurückgegangen,
ich habe einen Major Lützow hier wiedergefunden, der zwei Tage im Hauptquartier gewesen und heute nach Berlin zurückgeht. Er war früher mein Regimentsgefährte bei der Garde, und es ist mir interessant gewesen, ihn wiederzusehen, doch gewährt sein Hiersein keinen großen Haltungspunkt, - nur soviel, dass Sie über die Lage der Sache ganz richtig geurteilt. Der Kaiser kam von Ratzken, 6 Meilen von hier, sein gestriges Nachtquartier, zu Pferde hier an, ohne Überrock; es tut mir in jeder Hinsicht leid, dass ich nicht in seiner Haut stecke, und wahrlich des Vorrats an Wärmestoff halber nicht am wenigsten. Graf Tolstoi sagte, mais l'Europe entière riroit, si ces deux souverains ne seroient pas alliés - indem er von unsern Verhältnissen sprach. Fürst Wolkonsky, erster Generaladjutant des Kaisers, ist der eigentliche faiseur alles dessen, was in militärischer Hinsicht geschieht. Regierungsrat Kolhoff, der heute ganz früh wiedergekommen, hat noch eine  Illumination.
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élumination
für heute Abend, eine grüne Dekoration am Eingange der Stadt. welche denselben als solchen bezeichnete, besorgt und alles gut in Bewegung gesetzt.

 Zum Empfang in Johannisburg war auch Graf Georg Adam von Schlieben aus Gerdauen seitens der Ostpreußischen Stände gekommen, vgl. ebd., S. 2089 f., Major von Plotho an Schön, 23. Januar 1813.
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Der Kaiser bleibt noch drei Tage hier und geht dann direkt nach Johannisburg;
die Russen geben sich 20.000 Mann an, es ist aber höchst wahrscheinlich, dass sie nur 7-8.000 Mann sind; was aus dem übrigen Teil der Kutusowschen Armee geworden ist, ist mit Gewissheit nicht ausfindig zu machen, so wie es mir bisher noch nicht gelungen ist, etwas sicheres über die Österreicher zu hören. Sonntag sollen Patrouillen von ihnen in Johannisburg, ja selbst in Willenberg gewesen sein, an erstem Orte sicher - ich denke, Sie werden von Herrn v. Stein alles richtiger erfahren,  Kaiser Alexander hatte Stein am 18. Januar 1813 volle Gewalt über Ostpreußen erteilt, bis die Verhandlungen mit dem König zu einem solchen Ziel geführt haben würden, dass man ihm die Verwaltung der Provinz zurückgeben könne. Stein hielt den König für unfähig, noch unter dem Druck französischer Waffen richtige Entschlüsse zu fassen, weshalb er auf diesem Weg zum Bündnis mit Russland gezwungen werden sollte, vgl. Dönhoff, August Friedrich Philipp Reichsgraf, Königsberg und Ostpreußen zu Anfang 1813. Ein Tagebuch vom 1. Januar bis 25. Februar 1813, hrsg. von Maximilian Schultze, Berlin 1901 (Bausteine zur preußischen Geschichte, 1, 2), S. 69 f.
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noch ist es mir nicht gelungen, mit Herrn von Stein ordentlich zu sprechen,
er ist beständig alternativé beim Kaiser oder bei Kutusow, doch habe ich mehrere Gründe, die mir den innigen Wunsch einflößen, dass Euer Hochwohlgeboren ihn mit ruhigem Sinn empfangen und anhören, sich nicht bestechen noch momentan einnehmen lassen; verzeihen Sie der unberufenen Meinung, sie ist wahrlich treu gemeint, auch kann ich mich vielleicht irren.

Mir ist heute sehr unwohl und ich zweifle, dass ich meinem Versprechen und meinem Wunsch werde genügen können, selber schon morgen nach Gumbinnen zu kommen; da Minister von Stein selber kommt, werde ich Sie auch noch lieber ein paar Tage später sehen. Verzeihen Sie meinem Kopfweh die Unordnung dieses Briefes.

Gott erhalte Sie und sei Ihr Schutz
das von Herzen

Lehndorff

Zitierhinweis

Carl Friedrich Ludwig Graf von Lehndorff an Theodor von Schön. Ca. 18. Januar 1813. In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail.xql?id=lehndorff_fnt_r1z_wy