Editorische Auslassung [...]

Meine Herren! Indem ich mich zu dem Leben des Tages wende, so ist ja in den äußerlichen Vorgängen des Reiches und der Nation, unseres Standes und in den einzelnen Familien keiner großen Ereignisse zu gedenken; aber die Lage unseres Vaterlandes ist dieselbe geblieben, wie sie vor Jahr und Tag war. Der Kampf um das Dasein greift immer weiter hinaus in immer besser situierte Kreise und Stände, die Staaten Europas stehen sich gegenüber mit zahlreichen und so wohl gerüsteten Heeren, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, es wird für die Völker immer schwerer, wie der Feldmarschall Moltke einmal sagte, immer schwerer, auf die Dauer der Zeit diese Rüstung zu tragen. Überall wird die Störung des Friedens, der Ausbruch eines Krieges befürchtet. Niemand auf der ganzen Welt ist im Stande, die Verantwortung für einen solchen Krieg zu übernehmen, weil jeder fühlt, dass der Krieg solche Dimensionen annehmen würde, dass das Leben der Kulturvölker darin verschlungen würde. Deswegen herrscht auch die größte Besorgnis, sobald ein Funke in einem entfernten Teil Europas niederfällt und sich zur Flamme entzünden zu wollen scheint.

Neben dieser staatlichen Rüstung geht unbeirrt und wachsend weiter die unheimliche Strömung der Bildung der sozialen Armee. Niemand weiß ihre Ziffer zu benennen, niemand weiß vorauszusagen, wo der erste Ausbruch stattfinden werde, wo sie zuerst sich auf die friedlichen Bürger des Staates stürzen wird. Dabei geht der Wohlstand der Nation ja mehr und mehr zurück. Aus fast unerklärlichen Ursachen schwinden die Mittel in jeder Klasse des Erwerbs, am meisten vielleicht in der des Grundbesitzes.

  Editorische Auslassung [...]

Ich gelange von diesem Übergang zu unserer heutigen Situation. Ich nehme neben meiner royalistischen Gesinnung, und zwar nicht nur für mich, sondern für die ganze Genossenschaft, voll und ganz ein starkes nationales Bewusstsein in Anspruch, und werde mir das auch von niemandem bestreiten lassen, und werde das Gefühl dauernd behalten, an dem Aufbau des jungen Reiches nach meinen Kräften mitgeholfen und mitgearbeitet zu haben. Freilich kann ich mir nicht verhehlen, dass in diesem deutschen Kaiserreich ein Element fehlt, das in Monarchien nicht fehlen kann und nicht fehlen darf: ich meine das Element, welches wahrlich wohl einen Anspruch hätte, in Deutschland eine breite und große Vertretung zu finden, das Element des deutschen Adels. Das, was wir von adliger Vertretung und adliger Stütze in Deutschland noch haben, findet sich in den einzelnen Ländern, nicht aber im Deutschen Reich. Bei der Errichtung des Deutschen Reichs hat sich kein Platz für unseren Stand gefunden. Die einzige große Repräsentation, in welcher der Adel noch in die Erscheinung des Tages tritt, das ist, Gott sei Dank, unsere ruhmbedeckte und spiegelhelle Armee. Es ist häufig auch von mir sehr nahe stehenden Männern der Vorwurf erhoben worden, dass in unserer  Auf Initiative von 30 grundbesitzenden Adligen aus den preußischen Provinzen Brandenburg, Pommern, (Ost-)Preußen, Sachsen und Schlesien formierte sich am 26. Februar 1874 die Deutsche Adelsgenossenschaft (D.A.G.) als größte Vereinigung deutscher Adliger im Deutschen Reich. Durch Allerhöchste Kabinettsordre vom 7. März 1883 verlieh Kaiser Wilhelm I. der D.A.G. die Rechte einer juristischen Person. Sie sollte dem Liberalismus entgegenwirken und ein konservatives Gegengewicht setzen.
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Adelsgenossenschaft
doch der Offiziere zu viele wären und der Grundbesitzer zu wenige. Meine Herren, ich kann das nicht finden und werde dem nicht beitreten. Ich habe mit besondere Freude jedes Mal die Vertreter der Armee als neue Mitglieder hier aufgenommen, und ich finde, dass es auch gar nicht zu viele werden können, denn ihre zahlreiche Vertretung entspricht dem Geist, der weitreichend in der Armee vertreten ist und den ich hier um keinen Preis nicht vertreten sehen will, und was das anbetrifft, dass dieses militärische Element über das zivile Element Herr werden möchte, so teile ich diese Ansicht durchaus nicht, denn, meine Herren, wir alle sind aufgezogen in der Armee und sind auch herangebildet zum alten gut preußischen Herzschlage in der Armee und werden wohl wissen, mit den jüngeren Vertretern dieser Richtung hier uns zurechtzufinden und unsere Bestrebungen mit ihnen gemeinsam zum Wohle der Genossenschaft zu leiten.

  Editorische Auslassung [...]

Wir sind hier eine sehr kleine Minorität vom deutschen Adel und noch mehr vom deutschen Volk, aber, meine Herren, in der wachsenden Minorität, welche Hoffnung liegt darin ausgedrückt, welcher Blick in die Zukunft! Wenn wir uns Jahr für Jahr auch nur um einige Zehner vergrößern, werden da nicht allmählich die Ideen, die wir verfolgen, Platz greifen in unserem ganzen Stand, werden wir nicht allmählich, nachdem erst wir, wir die Kleinen, zusammengetreten sind, auch die Großen und Mächtigen unseres Standes zwingen mit uns hier zusammenzutreten, wenn wir in wachsenden Minoritäten uns bewegen?

Meine Herren! Die große Tatsache, auf der die weitere Entwicklung unserer preußisch-deutschen Geschäfte heute steht, das ist die Tatsache, dass wir das 25-jährige Regierungsjubiläum Seiner Majestät unsres Allergnädigsten Königs und Herrn im Januar haben feiern dürfen. Dieses 25-jährige Jubiläum, meine Herren, glaube ich, gibt wohl dem Einzelnen zu denken und sollte wohl dem ganzen Volk zu denken geben und das ganze Volk dahin führen, sich darauf zu besinnen, welche Gnade Gottes das Geschenk einer mächtigen dauernden dynastischen Regentenfamilie ist.   Editorische Auslassung [...]

Zitierhinweis

Eröffnungsrede zum 5. ordentlichen Adelstag, gehalten von Werner Graf von der Schulenburg. 20. Februar 1866 (Auszug). In: Lebenswelten, Erfahrungsräume und politische Horizonte der ostpreußischen Adelsfamilie Lehndorff vom 18. bis in das 20. Jahrhundert. Bearbeitet von Gaby Huch. Herausgegeben an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. URL: https://lebenswelten-digital.bbaw.de/dokumente/detail_doc.xql?id=lehndorff_amz_brm_cbb